Private Besuche

Porträt - Emma

Mittwoch 16 Juni 2021

Text : Sébastien Carayol — Stillleben-Fotografin: Corinne Malet

Ein Leben voller Inspirationen

Eine freundliche Globetrotterin und Anthropologin, eine Modedesignerin, die über Geschichte in Anekdoten erzählt, eine instinktive Ästhetin, deren Herz ihr Kompass ist:  das Leben von Emma, der Gründerin von Sessùn, ist eine bunte Mischung verschiedener Lebensläufe, doch alle treffen sich in einem Punkt, einer Begegnung.


Die Begegnung mit Menschen, aber auch eine abstrakte Begegnung mit der Materie, mit Kunst, mit Design, mit Kreationen in weiterem Sinne, so weit wie ihre Reisen rund um den Globus. 

Bildbände, Doktorarbeiten, Romane, Filme, Farben, Schallplatten, zusammengetragen zwischen Südamerika, Japan, Afrika und Marseille. Was lässt das Herz einer Frau höherschlagen, die von sich selbst sagt, dass sie beim Betreten einer Museumsbuchhandlung nahezu „ausflippt”. 

Zum 20-jährigen Bestehen von Sessùn, wollen wir anstelle eines klassischen Porträts ein riesiges Moodboard gespickt mit den Worten von Emma erstellen, Teilstücke eines Lebens voll Entdeckungslust umreißen und anhand einiger Einflüsse festhalten.

Ein Leben voller Inspirationen? Ich würde eher sagen voller Bücher, jegliche Art von Büchern. Neben Bild- und Grafikbänden, habe ich eine besondere Vorliebe für Bücher, die mich an meine Studienzeit erinnern, eine ganze Reihe von Büchern mit anthropologischer Ausrichtung… Kleine, sehr technisch ausgerichtete Bücher, beispielsweise über die Tracht der Zapoteken oder die der Mayas in einer bestimmten Region Guatemalas.

Besonders gerne sammle ich reich illustrierte Bücher über Textilien. Eines der letzten, das meinen visuellen Sinn besonders angesprochen hat, heißt African Textiles (John Gillow, 2016). Es ist eine umfassende Retrospektive über alle Ausprägungen afrikanischer Webkunst und geht sowohl auf zentralafrikanische als auch marokkanische Webarbeiten ein. In diesem Zusammenhang würde ich auch das Buch Teppiche und Webereien: die Kunst der Berberfrauen in Marokko (Fréderic Damgaard, 2009) und Marokko/Morocco mon amour (Kurt Rainer, 2005) nennen. Aber fangen wir vielleicht von vorne an… Ich habe mich mit 21 Jahren zu meiner ersten Reise nach Lateinamerika aufgemacht. Es war eine Studienreise, zusammen mit zwei Freundinnen, eine Suche nach Emotionen, Entdeckungen und neuen Begegnungen. Ich studierte damals Geld- und Finanzwirtschaft, ein bisschen aus Trotz und aus Mangel an Ideen.
 
In dieser Reise fand mein Werdegang, der vielleicht schon lange in mir schlummerte, seinen Ursprung. Den allerersten Anstoß dazu gab mir sicherlich schon die französisch-japanische Zeichentrickserie „Die geheimnisvollen Städte des Goldes”, die hat mich wirklich schwer beeindruckt … (lacht). Schon als Teenager war ich verrückt nach südamerikanischer Literatur und dem magischen Realismus. Der Roman Hundert Jahre Einsamkeit (Gabriel Garcia Márquez, 1967) hat mich nachhaltig aufgewühlt und die Werke von Jorge Luis Borges habe ich alle in nur wenigen Wochen verschlungen.

Und dann war da noch Frida Kahlo. Ich habe ihre Werke entdeckt und verspürte eine tiefgreifende Verbundenheit. Ich musste einfach nach Coyoacán, in diesen Stadtbezirk von Mexico City, um den Ort zu sehen, wo sie gelebt hatte, ihr Haus, ihre Bilder, um auf ihren Spuren zu wandeln. Diese erste Reise hat all meine Erwartungen übertroffen, sie war für mich eine echte Offenbarung und hat in gewisser Weise den Lauf meines Lebens verändert! Mir hat dort alles gefallen und aus allem wurde eine Inspirationsquelle, die Farben, die lokalen Trachten, das Handwerk...
 
Zwischen 1992 und 1999 folgten weitere Reisen: nach Peru, nach Ecuador… Gleichzeitig habe ich beschlossen, mich auf Wirtschaftsanthropologie zu spezialisieren und mein Studium verstärkt auf Handwerk auszurichten. Es hat mich fasziniert, die Rolle des Handwerks in der Wirtschaft zu untersuchen und mich mit den Prämissen von fairem Handel und ethischem Verhalten zu befassen. So habe ich mich am Institut für Lateinamerikastudien an der Sorbonne in Paris eingeschrieben.

Zu dieser Zeit, habe ich auch damit angefangen, mir Bücher zu kaufen, die sich mit ethnischen Textilien, aber auch mit Fotografen aus aller Welt befassten, wie etwa Malick Sidibé & Seydou Keïta (Mali) und Sergio Larrain (Chile). Bei der Rückkehr von meinem ersten Aufenthalt in Lateinamerika, kam meinen Freundinnen, Alex und Vanska, und mir die Idee, unsere Reisen durch den Verkauf mitgebrachter Kleinteile, wie etwa Hosen aus Guatemala, Häkelmützen etc. zu finanzieren. Wir konnten unsere ersten beiden Reisen dadurch zwar problemlos bezahlen, doch war der Handel an sich nicht zufriedenstellend. Ich habe daraufhin beschlossen, eine eigene Kollektion zu entwerfen und nochmals, diesmal allein, aufzubrechen, um diese von mir erdachten Kleinteile direkt vor Ort herstellen zu lassen.

Diese erfreuten sich sofort großer Beliebtheit und so wurde Sessùn 1996 geboren. Natürlich waren die Mengen damals sehr gering gehalten, mir jedoch genügten sie, um es zu wagen mich auf das Abenteuer einzulassen. Meine ersten Verkaufsstellen waren eher Independent, Urban Style und Streetwear. Ich entwickelte mich zunächst also im Skate- und Surfmilieu und Sessùn bot eine femininere Alternative zu den traditionellen Urban Marken. Im Nachhinein betrachtet, denke ich, war es genau diese etwas ungewöhnliche Positionierung, die es der Marke ermöglichte, zu bestehen und sich ihr Netzwerk aufzubauen.
 
Während meiner Reisen, entdeckte ich immer wieder neue literarische Horizonte und insbesondere die japanische Literatur… Der Roman Schnee im Frühling (Yukio Mishima, 1970), der mir die Augen öffnete für die Feinheit Japans, die Zartheit, das Fortschreiten der Zeit, die Betrachtung. Indirekt löste dieser Roman in mir den Wunsch aus, nach Japan zu reisen. Zwischen 2003 und 2004 entdeckte ich dort japanische Textilien im Allgemeinen und Indigo im Besonderen. Aus diesen Reisen ergab sich die Kollektion Sessùn Blue, dann die Ausstellung Indicrafts, die von der Indigofarbe inspiriert und in dem Buch Indigo: The Color that changed the world (2012) verewigt wurde.

All diese Bücher haben in der Vorstellungswelt von Sessùn auf irgendeine Weise Spuren hinterlassen.  Auch wenn Bilder oder Kollektionen nicht direkt durch Bücher erschaffen werden, so lassen sie doch Wünsche und Anregungen in mir entstehen.

Aber zurück zur Chronologie… Nachdem ich mein Studium aufgegeben hatte, um mich in das Abenteuer Sessùn zu stürzen, verließ ich Paris und zog 1997 nach Marseille, wo ich mein erstes Büro eröffnete. Die Kollektion wurde immer umfangreicher und so beschloss ich 1999 auch in Folge einiger desillusionierender Erfahrungen in Südamerika, meinen Rucksack zu wegzuräumen.

Mein Inspirationsradius erweiterte sich und die Marke begann nun auch, Verbindungen zur Musikszene zu knüpfen. Damals begann meine Zusammenarbeit mit Laurent Richard. Wir hatten beide eine Vorliebe für das leicht vergilbte, verblichene amerikanische Foto, die Fotos von William Eggleston, aber auch von Stephen Shore und Joel Meyerowitz. Wir liebten diese Ästhetik der zerknickten und gealterten Fotos, Polas, Lomos und Dianas… Die ersten Sessùn-Kataloge erzählten diese Geschichten und wiesen eine Ästhetik auf, die sehr von diesen Einflüssen geprägt war.
 
2000 war das Jahr, in dem ich das Design der fünfziger und sechziger Jahre, und insbesondere das kalifornische Design entdeckte. Mein erster Kauf war ein Rattansessel von Janine Abraham, jetzt ein ikonisches Element unserer Shops. Und um all dies noch zu symbolisieren, kommen immer wieder Bücher ins Spiel: Eames: Beautiful Details (2012) und California Design, 1930–1965 Living in a Modern Way (2011). Außerdem habe ich Alexander Girard, Mitarbeiter von Eames, entdeckt, der von der mexikanischen Kultur fasziniert war und der auch die sog. Wooden Dolls schuf. Er hat eine Brücke zwischen Mexiko und dem modernen Design gespannt, die mich überwältigte. Hier war alles vereint, was ich liebte!  Das Buch, Alexander Girard (Todd Oldham & Kiera Coffee, 2011), aber auch die von Vitra herausgegeben Puppen sind überwältigend! All diese Einflüsse haben Sessùn und die Identität unserer Shops geprägt.

Wie auch immer, im Grunde kann alles zur Inspiration dienen. Für jede Kollektion entwickeln wir eine oder mehrere, hauptsächlich visuelle, Geschichten. Der Ausgangspunkt hierfür kann manchmal nur ein einziges Bild sein, eine ästhetische Idee auf einem Foto. Ich denke da beispielsweise an ein in New York aufgenommenes Foto von Joel Meyerowitz, das eine junge Frau in einem hübschen roten Kleid am Fuße des Empire State zeigt: die Farben des Fotos sind dermaßen intensiv, dass daraus eine ganze Geschichte wurde.
 
Das Buch Begegnungen auf Feuerland von Martin Gusinde (2015) diente 2016 einer anderen kollektionsbegleitenden Geschichte als Inspiration. Das Buch ist ein fotografisches Bericht eines Missionars zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der nach Feuerland ging, um die Kultur eines indianischen Stamms zu entdecken. Diese Indianer waren noch nach traditioneller Stammessitte geschminkt, aber gleichzeitig bereits westlich gekleidet, im Stil, der zu Beginn des Jahrhunderts vorherrschte: die Männer mit Anzügen aus Flanell und Wollstoff, die Frauen in viktorianischen Blusen, das Ganze mit Tierfellen verziert. Dieses Buch hat mich stark berührt und inspiriert. Diese erste Zuwendung zu  ethnischen Textilien geht, glaube ich, auf Westernfilme zurück - zunächst die Kleidung der Cowboys, dann die maskuline Farmer-Kleidung und schließlich die Indianerkleidung. 
 
Mein Großvater und auch meine Eltern waren alle ausgesprochene Filmliebhaber, so dass meine Beziehung zum Kino schon sehr früh begann. Die Bilderfülle des Hollywood-Kinos der 1940er und 1950er Jahre hat mich also schon in jungen Jahren fasziniert, wenn auch noch nicht inspiriert. Das führte mich mit 15 Jahren fast zwangsläufig zum italienischen Kino. L’Avventura von Antonioni, daran erinnere ich mich noch genau, war wie ein erste ästhetische Offenbarung für mich. Meine Eltern zeigten mir Visconti, Fellini, Pasolini und schließlich, bald danach, die Nouvelle Vague, Godard mit Anna Karina, eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Ich habe diese Filme zum ersten Mal als Teenager gesehen, und sah sie mir später, im Alter zwischen 25 und 30 Jahren, ein weiteres Mal an,  diesmal unter rein stilistischen Aspekten. Mein Filmerlebnis war nun ein fotografisches und diente der reinen Inspiration...

All das hatte großen Einfluss auf die Entstehung eines Stils: die Sessùn-Kollektionen  haben oftmals eine ethnische Dimension, lassen aber immer auch einen Bezug zum Kino der 1960-er Jahre und der Nouvelle Vague erkennen… Neben den erwähnten Büchern, hinterlässt also auch dieser filmische Einfluss seine Spuren in den Kollektionen.

Aber da ist auch noch die Musik… Ich schöpfe daraus reflexartig meine Kreativität, eine Platte, ein Lied, ein Vinylcover, eine geliebte Sängerin. Musik besteht nicht nur aus Liedern, sondern ist ein eigenes komplettes künstlerisches Manifest und bedeutet eine Menge Gefühle. Auf die Schnelle denke ich an Cat Power, Patti Smith, David Bowie, Nancy Sinatra, an Victoria Legrand von Beach House, an das Plattencover von Love Child von Diana Ross.

All diese kleinen Obsessionen machen den Stil von Sessùn aus, auch wenn das Rückgrat diese verrückte Geschichte über Begegnungen und Freundschaften bleibt. Ich stelle mir gerne vor, wie Sessùn durch diesen Wald aus polymorphen Inspirationen spaziert und hier und da Erinnerungen sammelt, so wie man es während einer Reise macht, um sie anschließend in ein Tagebuch zu kleben, das man gemeinsam mit anderen durchblättert. Und um jede Saison wieder ein echtes erlebtes Abenteuer erzählen zu können, das die Geschichte einer Mode beinhaltet, die in ihrer Zeit verankert ist und doch über sie hinausreicht. Eine zeitlose Liebesgeschichte, die die Schaffung von Kollektionen nur zum Vorwand nehmen könnte, um dahinter unendlich viele andere Lebensläufe in Form kleiner Mosaiksteinchen zu erzählen…

Natures morte inspirations Emma François de Sessùn
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