Begegnungen

Lilly Gratzfeld

Dienstag 3 Mai 2022

Photograhies : FLORIAN TOUZET

Lilly Gratzfeld bezeichnet sich selbst als kulinarische Künstlerin, Handwerksmeisterin und „Verfechterin der Fermentation“. Ein guter Grund, diese außergewöhnliche Chefköchin zu Wort kommen zu lassen, die im Rahmen verschiedenster Projekte und Kooperationen bis hin zu Residenzprogrammen eine fröhliche und kreative Küche zaubert. Immer in ihrem Gepäck, die traditionellen philippinischen Gerichte ihrer Mutter und die Erinnerungen an den Keller ihrer Urgroßmutter, in dem sich die Einmachgläser stapelten... Dieses multikulturelle Erbe und ihre unstillbare Neugier für alle Arten von Kunst, angefangen bei Tätowierungen bis hin zum klassischen Kunsthandwerk, haben sie dazu gebracht, das Hybridprojekt Rosa Pilpel ins Leben zu rufen, das eine Verbindung zwischen Kochkunst und anderen Disziplinen schafft. Wir konnten mit Lilly Gratzfeld im Rahmen ihrer Teilnahme als Chefköchin am ersten von Sessùn Alma veranstalteten Residenzprogramm zwischen zwei Gängen sprechen.

Du bist bereits sehr früh in eine bestimmte Esskultur eingetaucht. Was sind Deine frühesten Erinnerungen an das Kochen?
Ich komme aus einer Familie mit einem sehr unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergrund: meine Mutter mit jüdisch-aschkenasischen Wurzeln ist auf den Philippinen aufgewachsen und mein Vater kommt aus Osteuropa. Meine frühesten Erinnerungen an das Kochen drehen sich hauptsächlich um das philippinische Chicken Curry meiner Mutter, ein traditionelles Festtagsessen in unserer Familie, aber auch um die Einmachgläser, die den Keller des Hauses meiner Urgroßmutter Rosa Pilpel füllten.
Wie und durch wen entstand Deine Liebe zum Kochen?
Gutem Essen kommt in meiner Familie ein hoher Stellenwert zu, es ist ein Allheilmittel gegen Krankheit, gebrochene Herzen ... oder einfach ein Ausdruck der Zuneigung gegenüber geliebten Menschen. In die Geschmackswelt eingeführt hat uns vor allem meine Mutter durch ihre vielen Gerichte, die von ihren Reisen um die ganze Welt inspiriert waren, und vor allem auch durch die verschiedenen Gewürze, die sie jedes Mal mitbrachte.
Eine praktische Frage: Wo hast Du Deine Ausbildung gemacht?
Eigentlich wollte ich Tätowiererin werden. Nebenbei arbeitete ich aber auch in einer Küche. Und so entwickelte ich schnell eine Leidenschaft für Aromen und den Wunsch, meine Kreativität auch kulinarisch auszudrücken. Ich arbeitete zunächst drei Jahre lang in einem Sternerestaurant in Deutschland und ging dann nach Paris zu Pierre Hermé, wo ich fünf Jahre lang in seinen Labors und im Grand Hotel Royal Monceau tätig war. Nach einer Zusammenarbeit mit Philippe Labbé im Rahmen der Neueröffnung der legendären, zum Luxushotel umgebauten „Bains Douches" in Paris, habe ich mich schließlich selbstständig gemacht.
Du arbeitest viel an Projekten, in denen sich das Kulinarische mit anderen Disziplinen der Kunst vermischt. Was bedeutet es für Dich, das Kochen aus seinem eigentlichen Kontext zu lösen?
Für mich bedeutet Kreativität, und zwar unabhängig vom Bereich, in erster Linie die Fähigkeit, seine Umgebung zu beobachten und sich in sie hineinzuversetzen. Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft sind die wichtigsten Werkzeuge, die es uns ermöglichen, die Welt und uns selbst zu hinterfragen und uns in unserer Umwelt zu positionieren. Die Interaktion mit diesen verschiedenen Disziplinen ermöglicht es mir, meine Tätigkeit als Chefköchin zu hinterfragen und über den eigenen Tellerrand zu schauen. Ich lasse mich von Kunstwerken, Worten, Musik oder sogar von neuen Techniken der Lebensmittelverarbeitung inspirieren, kurz gesagt, ich bewahre mir meine Neugier, um mein kreatives Schaffen ständig weiterzuentwickeln und mich selbst zu erneuern.
Erzähl uns ein bisschen mehr über das Fermentieren und warum Dir dieses Verfahren besonders am Herzen liegt.
Die Familie meiner Mutter, osteuropäische Juden, waren während des Zweiten Weltkriegs gezwungen, sich in ihrem Haus in Deutschland zu verstecken. Sie bauten dort eine Vielzahl von Obst und Gemüse an, das sie einlegten, um Nahrung zum Überleben zu haben. Ich bin zum Teil in diesem Haus aufgewachsen und habe noch sehr lebendige Erinnerungen an den Garten, aber vor allem an die vielen Einmachgläser, die im Keller aufbewahrt wurden, eine Tradition, die auch nach dem Ende des Konflikts fortgeführt wurde. Mit diesen Gläsern habe ich übrigens auch meine ersten Fermentationsversuche gemacht.
Könntest Du uns ein bisschen mehr über dein Projekt Rosa Pilpel erzählen, wie es entstanden ist und was man dort essen kann?
Ich habe das Projekt Rosa Pilpel 2018 in Paris ins Leben gerufen und mich dabei auf meine Herkunft und meine Einflüsse bezogen, die sich irgendwo zwischen Gefilte Fish (gefüllter Karpfen, ein typisches Gericht der aschkenasischen Küche, Anm. d. Red.) und Chicken Curry festmachen lassen. Ziel ist es, stets die Praktiken der Kochkunst und anderer kreativen Disziplinen zu kreuzen und gleichzeitig die Werte zu verteidigen, die mir wichtig sind, d. h. Respekt vor der Umwelt, ethisches Essen, das eine lokale und zirkuläre Wirtschaft unterstützt. Ich würde meine Küche als neugierig - ich koche selten zweimal das gleiche Gericht - und wandelbar bezeichnen, und zwar in Bezug auf meine Umgebung, meine aktuellen Inspirationen und die Produkte, die mir zur Verfügung stehen.
Woher nimmst du die Inspirationen für die Konzeption Deiner nächsten Projekte und die Ausarbeitung Deiner Rezepte?
Aus der Beobachtung meiner Umgebung, aus Gesprächen mit Mitarbeitern und anderen Gesprächspartnern, aus Büchern, insbesondere Kochbüchern, aus Musik, aber auch aus Kunst und Kunsthandwerk. Jedes Projekt ist anders und genau das ist das Spannende daran, so muss ich ständig neue Ideen entwickeln und meine Vorgehensweise erneuern.
Auf was bist Du derzeit kulinarisch besonders fixiert?
Ich habe nie viel mit Fleisch gekocht, aber in letzter Zeit beschäftige ich mich intensiv mit der Herstellung meiner eigenen Wurstwaren. Da mir bewusst ist, dass der Massenkonsum von Fleisch eine echte Gefahr für die Umwelt darstellt, habe ich mich entschlossen, selbst Wurst herzustellen, um die Auswahl der Rohstoffe besser kontrollieren zu können, aber auch, um ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was es bedeutet, ein Tier zu verarbeiten und wie man es am besten nutzt, um dabei einen ethisch vertretbaren Ansatz beizubehalten. Ich habe auch in eine Vorrichtung zur Extraktion von Aromen investiert - das wird mein nächstes Hobby.
Wenn Sessùn eine gedeckte Tafel wäre, was würde man dort Deiner Meinung nach finden?
Man würde dort alles finden, was die Welt der Kunst und des lokalen Handwerks an schönen Dingen zu bieten hat: Keramik, Stoffe und Tischkultur von lokalen Herstellern und Designern, rohe und natürliche Materialien und natürlich Köche und Köchinnen, die es verstehen, die Produkte der Region zu veredeln!
Wie hast Du Dein Menü für Deine Residenzwoche bei Alma zusammengestellt? Inwiefern passt es zum Geist des Ortes / der Region und zum Frühling?
Inspiriert von dem Ort und der angebotenen Auswahl habe ich versucht, eine einfache Speisekarte zu entwerfen, die sich jeden Tag ändert und für die ich saisonale und lokale Produkte verwende, die von Leichtigkeit und Farben geprägt sind. Während meiner Residenzwoche möchte ich außerdem die Veröffentlichung des Buches des Kollektivs Bigoud über das Wildsammeln zum Anlass nehmen („Zones à cueillir", von Caroline Decque und Camille Gasnier, erschienen im französischen Original Bei Les Editions Ulmer, Anm. d. Red.) und mit den Autorinnen zusammenarbeiten, indem ich für meine Gerichte ihre frisch gepflückten Blumen und Kräuter verwende.
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