Begegnungen

Julie Boucherat

Freitag 9 September 2022

Bildnachweis: Anna Leonte Loron

Skulpturale Keramikobjekte oder Gebrauchsgegenstände, Kooperationen mit Handwerkern, Kuratieren von Ausstellungen - all diese Projekte stehen für das Label MANO MANI, das Julie Boucherat 2019 im Herzen des französischen Baskenlands ins Leben gerufen hat. Die Autodidaktin stammt aus einer Familie von Kunsthandwerkern und schöpft ihre Inspirationen sowohl aus dem traditionellen japanischen Handwerk als auch aus moderner Kunst. Für die Ausstellung „Floraison Créative“ bei Sessùn Alma hat sie ein einzigartiges, liebenswertes und organisches Keramikobjekt entworfen, mit dem man am liebsten, wie mit einem Haustier, zusammenleben würde.

Wie ist MANO MANI entstanden?

Nachdem ich sieben Jahre lang in Paris als Journalistin im Bereich Design gearbeitet hatte, beschloss ich zu meinen Ursprüngen zurückzukehren, d.h. zum Gestalten mit Ton, einem lebendigen Material, das ich schon als Kind durch meine Mutter, ebenfalls Keramikerin, kennenlernte. Im Jahr 2016 beschloss ich dann, mich dieser Arbeit voll und ganz zu widmen. Kurz darauf weckte die Geburt meiner Tochter Mao in mir das Bedürfnis, mich woanders niederzulassen und so entschieden mein Lebensgefährte François und ich ins Baskenland zu ziehen. Als Nizzaerin mit korsischen Wurzeln verspürte ich das Bedürfnis, Paris zu verlassen, um im natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten, zwischen Bergen und Meer, zu leben. MANO MANI wurde hier 2019 ins Leben gerufen. Dieses freie und unabhängige Label an der Schnittstelle zwischen Kunst und Kunsthandwerk ermöglicht es mir alles, was mich inspiriert, uneingeschränkt und ohne Termindruck umzusetzen: in erster Linie natürlich Keramik, aber auch Kooperationsprojekte mit Handwerkern, die für ihrer Arbeit auf traditionelle Verfahren zurückgreifen, wie beispielsweise bei der Herstellung meiner baskischen Espadrilles MANO MANI. Aber auch das Kuratieren gehört dazu, wie etwa die im September 2021 von mir konzipierte und organisierte Gruppenausstellung „Biodifformité'', an der ich, neben Kethevane Cellard und Paola Rodriguez, außerdem selbst als Künstlerin teilgenommen habe.

Wie sieht Dein Atelier aus und was macht es einzigartig? 

Mein Atelier ist einfach, klein und bescheiden. Es passt gut zu mir. Ich liebe es, Zweige zu sammeln, sie über meinem Arbeitsplatz aufzuhängen und dann zu beobachten, wie sie sich im Laufe der Tage verändern. Ich habe kein fließendes Wasser und wie sich herausstellt, ist das ein großes Glück. Was ein Problem hätte darstellen können, hat sich nun als etwas sehr Positives erwiesen: Ich nutze verschiedene Möglichkeiten der Wassergewinnung, das ist sehr umweltfreundlich und darauf bin ich sehr stolz.

Mein Atelier ist Teil von Pioche Projets, einem alternativen Kunstraum, der in einem großen Industriegebäude im Stadtviertel Bibi (Beau Rivage, Biarritz), einem ehemaligen Fischerviertel in der Nähe der berühmten Côte des Basques, liegt. Dort veranstalten wir Ausstellungen, Masterclasses und Konzerte, um den Ort und das Viertel am Leben zu erhalten - das ist wirklich einzigartig.

Du bist in einer Familie von Kunsthandwerkern groß geworden und hast daher schon früh den Ablauf in einem Künstleratelier kennengelernt. Welche Erinnerung hast Du daran?

Ich habe viel Zeit in der Gemeinschaftswerkstatt meiner Mutter verbracht. Ich erinnere mich an alles: die Gerüche, den frischen Ton, an dem ich mich gerne großzügig bediente, die Werkstücke, die wie Gespenster unter den Folien trockneten. Schon damals liebte ich es, kleine Tischaccessoires herzustellen - ich erinnere mich zum Beispiel an Messerhalter, die ich einmal zu Weihnachten gebastelt habe.

Meine Großmutter mütterlicherseits war Schneiderin und mein Großvater Polsterer und Dekorateur. Sie lebten in einem großen Haus in den Wäldern der Vogesen. Die Werkstatt meines Großvaters befand sich in einem kleinen Häuschen im hinteren Teil des Gartens und ich liebte es dort umherzuschlendern, wenn niemand da war: Aus der Dunkelheit drang der Geruch von Wachs hervor, alte Möbelstücke lagen neben staubigen Stoffen und großen Maschinen. Ich fand es auch schön, in Großmutters sorgfältig aufgeräumten Sachen zu stöbern und mit den Fingern durch ihre Knopfschachteln zu fahren. Dabei hatte ich das Gefühl, echte Schätze zu finden.

Mein Opa Denis aus der Familie meines Vaters war in Korsika Antiquitäten- und Trödelhändler und ich kann mich noch gut an seine „Schatzkammer“ erinnern. Daran schloss ein winziger Hof mit einem großen, mittig gepflanzten Feigenbaum an. Im Sommer pflückten wir dort die Feigen. Sie waren riesig, mit ihrer lilafarbenen Haut und dem roten Fruchtfleisch -  die besten, die ich je gegessen habe, ich werde mich immer daran erinnern.

Deine Inspirationen sind sehr breit gefächert.  Woher nimmst Du sie?

Generell würde ich sagen, dass die Arte Povera, eine italienische Kunstbewegung aus den 1960-er Jahren, großen Einfluss auf mich hat. Ich liebe die Arbeit des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida, dessen Stiftung man mindestens einmal im Leben besuchen sollte - „Chillida Leku“ im südlichen Baskenland. Außerdem sind in ungeordneter Reihenfolge zu nennen: Joan Miró, Pierrette Bloch, Koshiro Onchi, Sheila Hicks, Frida Kahlo, Martin Margiela, Pablo Picasso, Louise Bourgeois, Valentine Schlegel, die Familie Giacometti, Bernard Leach, Lucie Rie, Giorgio Morandi, Amédée Ozenfant ... und ganz viele andere. Ich interessiere mich auch sehr für Kunsthandwerk im Allgemeinen und speziell für japanische Handwerkstechniken: Keramik natürlich, aber auch Stickerei, Holzbearbeitung, Flechtkunst, Webkunst.... Wenn ich könnte, würde ich alles lernen. Auch die Poesie eines einfachen, häuslichen Gegenstands inspiriert mich: eine Bürste, ein Korb, ein Löffel... 

Inspiration findet sich überall, in der Natur, die uns umgibt, aber auch im Erbe vergangener Zivilisationen. Legenden, Symbolik und Traditionen bedeuten mir sehr viel. Aus diesen Gründen habe ich mich auch im Baskenland niedergelassen.

Warum hast Du das Modellieren als Haupttechnik gewählt ?

Ich liebe Fehler, Unregelmäßigkeiten, Kurven und organische Formen. Ich bin eine entschiedene Autodidaktin, ich muss ausprobieren, experimentieren und suchen, um zu finden. Ich möchte in der Lage sein, den gesamten Vorgang zu kontrollieren, um zu verstehen, was ich tue, und um zu bekommen, was ich will. Ich brauche Zeit und denke viel nach, bevor ich etwas gestalte. Aber wenn der Ton erstmal vor mir liegt, dann lasse ich mich von ihm leiten und überlasse ihm in gewissem Maße sogar die Kontrolle. Ton hat eine starke Entscheidungs- und Orientierungskraft, ich liebe es mich darauf einzulassen, ihm zuzuhören und ihm zu folgen.

Welcher Stellenwert kommt der kreativen Forschung und dem Experimentieren bei Deiner Tätigkeit zu?

In der Werkstatt beginnt alles immer mit einer experimentellen Phase: das kann das Experimentieren rund um ein neues Formenrepertoire sein oder das Erproben einer bestimmten Technik, die ich dann auf verschiedene Werkstücktypologien anwende. Außerdem gehören Materialtests dazu, die das Experimentieren mit neuem Ton, dessen Bearbeitung und die Tests mit „wildem“ Ton, den ich auf meinen verschiedenen Reisen sammle, umfassen. Oder das Experimentieren mit Farben, die Entwicklung neuer Glasuren oder Engoben, die es mir ermöglichen, meine persönliche Palette aus natürlichen Tönen und einem mattem Finish zu finden und meine eigene Signatur zu entwerfen. Sobald ich diese experimentellen Phasen durchlaufen habe, lege ich fest, welche Objekte ich modellieren werde. Dabei kann es sich sowohl um ein anspruchsvolles Kunstwerk als auch um eine einfache Tasse handeln. 

Für alle meine Objekte verwende ich schamottiertes Steinzeug in den Farben Elfenbein, Schwarz, Rotbraun oder Bordeaux. Mir gefällt es, wenn meine Objekte die natürliche Farbe des Steinguts durchscheinen lassen.  

Einer der wichtigsten Aspekte ist für mich die Textur, der rohe Charakter eines Objekts. Es ist wichtig, das Material fühlen und spüren zu können, wenn man ein Keramikobjekt in den Händen hält, um sich wie bei einer rituellen Handlung mit ihm verbunden zu fühlen. 

Erzähl uns doch ein bisschen etwas über das Objekt, das Du Dir im Rahmen Deines Beitrags für die Ausstellung „Floraison Créative" von Sessùn ausgedacht hast und für das Du absolut freie Hand in der Gestaltung und Umsetzung hattest.

Mein Flacon de compagnie ist das Ergebnis einer Reflektion rund um das Thema Hauskeramik oder wie man ein anrührendes Objekt schaffen kann, das man gerne immer um sich haben und in sein direktes Lebensumfeld integrieren will. In Anlehnung an das Halten eines Haustiers kam mir irgendwann die Idee einer „Begleitkeramik“. Sie ist sehr organisch, sie scheint lebendig zu sein und zu atmen. Ihr Panzer, eine Mischung aus Schuppen eines zu einer Kugel zusammengerollten Schuppentiers und dem schwarzen, mit weißen Punkten verzierten Gefieder eines afrikanischen Perlhuhns, erscheint wie eine zweite Haut. Dieses Stück soll die Vorstellungskraft anregen.

Außerdem ist mein „Flacon de compagnie“ die Fortsetzung eines typologischen Experiments. Ich arbeite nämlich an einer Reihe von Flakons, von denen ich mir vorstelle, dass sie kostbare Elixiere enthalten könnten. In den letzten Monaten habe ich mehr als zwanzig davon geformt. Dieses sehr große Objekt ist eine überproportionale Neuinterpretation meiner klassischen Flakons, die die normale Vorstellung des Maßstabs auf den Kopf stellt.

Was nimmst Du aus der Erfahrung dieser freien Auftragsarbeit mit?

Eine freie Auftragsarbeit ist das, wovon jede*r Künstler*in träumt: Es bedeutet, unsere originellen Überlegungen zum Leben zu erwecken und die Gelegenheit zu haben, sie öffentlich zu teilen.

Retrouvez le look de Julie Boucherat

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