BILDNACHWEIS : Marina Germain
Die Architektin und Designerin Capucine Guhur erhielt für „La Récolte“, ihre Anfertigung eines aus runden Formen und natürlichen Materialien gestalteten Kokon, den ersten Preis des Sessùn Craft Prize. Der im März 2023 ausgeschriebene Wettbewerb lud die Teilnehmer dazu ein, einen kokonähnlichen Raum für eine oder zwei Personen zu konzipieren, in den man sich zum Ausruhen oder Arbeiten zurückziehen kann. Von der Welt des Theaters, Bewegung und Bildern inspiriert, entschied sich Capucine für dieses Projekt, Holz und Stroh zu verwenden. Ein neuer Schritt in ihrer kreativen Laufbahn.
Du bist Designerin, Innenarchitektin, Bühnenbildnerin... Erzähl uns mehr über Deinen Werdegang.
Ich habe schon immer in einem künstlerischen Umfeld gelebt: meine Eltern sind Schauspieler und meiner Schwester Regisseurin. Auch meine Begeisterung für den künstlerischen Bereich machte sich schnell bemerkbar. Nach einer Vorbereitung auf das Kunststudium in Paris habe ich an der Pariser École Camondo ein Doppeldiplom als Innenarchitektin und Designerin gemacht. Danach war ich in verschiedenen Agenturen tätig und habe nebenbei in meinem Atelier meine eigenen Projekten umgesetzt. Ich habe hauptsächlich in Agenturen gearbeitet, die von Frauen geführt wurden, wie etwa bei Studio Perrier, Marine Bonnefoy oder Marion Mailaender. Marion spielte übrigens eine ganz wesentliche Rolle bei der Entwicklung meiner Raumwahrnehmung. Dank ihres freien Geists gelingt es ihr, die Grenzen der Epochen zu überschreiten. Durch die Übernahme von Projekten in den Bereichen Innenarchitektur, Bühnenbild sowie Objektdesign konnte ich schließlich mein eigenes Büro aufbauen.
Was hat Dich an diesen Disziplinen so gereizt? Inwiefern ist es für Dich wichtig, Dich nicht nur auf eine Disziplin zu beschränken, sondern im Gegenteil, mehrere Disziplinen miteinander in Dialog treten zu lassen?
Ich habe mich schon immer von den Orten, den Räumen, die uns umgeben, und den Geschichten, die sie erzählen, in den Bann ziehen lassen. Ich konzipiere meine Projekte, indem ich Objektdesign und Innenarchitektur eng miteinander verknüpfe. Die Verknüpfung der beiden Bereiche ist eine selbstverständliche Voraussetzung für eine sensible Erzählung. So gehe ich Projekte in ihrer Gesamtheit an.
Du arbeitest teils in Marseille, teils in der Bretagne, bist aber auch regelmäßig in Porto. Wie wirkt sich dieser geografische Spagat auf Deine Arbeit aus?
An diesen verschiedenen Orten zu leben, ist ein unglaublicher Reichtum und eine Chance. Ich finde dort ganz unterschiedliche Inspirationsquellen. Die Bretagne ist meine Heimat und so finden meine Projekte ihren Ursprung oftmals dort. Ich liebe den ausgeprägten Charakter der rauen Landschaften dieser Gegend und die Hinterlassenschaften der keltischen Kultur. In Porto, genau wie in Paris, wirkt das Treiben und der Trubel einer Künstlerstadt anregend und inspirierend. Marseille wiederum bezieht seine Energie aus der Mischung mediterraner und fremdländischer Kulturen. Wie in der Bretagne ist auch hier das Meer für mich eine Quelle der Kreativität. Übrigens befindet sich dort auch mein Atelier.
Welche Kreation repräsentiert Deine Arbeit am besten?
Kreationen spiegeln oftmals einen Moment T unseres Lebens und unserer Einflüsse wider. Aber je nach dem Ausmaß an kreativer Freiheit hängt man an manchen Arbeiten mehr als an anderen. Mein Werk „Le dernier repas“, das im Rahmen der Design Parade in Toulon 2021 von der Villa Noailles ausgestellt wurde, war eine freie Arbeit, bei der meiner Kreativität keine Grenzen gesetzt waren. Die Mythologie hat mich schon immer stark inspiriert und dieses Projekt war die Gelegenheit, ihr nicht mit Worten, sondern mit Raum und Objekten Ausdruck zu verleihen. Mein Dekor ist ein Esszimmer, und zwar das, indem das letzte gemeinsame Mahl zwischen Odysseus und Calypso stattfand. Ein Raum, den ich szenisch gestalten wollte, gleich einer Theaterszene, die die Schauspieler gerade, mit einem letzten Atemzug, beendet haben - eine Tragödie. Wenn die Besucher den Raum betreten, herrscht Stille, doch in der Luft schwebt noch die Ahnung eines vorangegangenen heftigen Stimmengewirrs. Des ausgebrochenen Streits zwischen Odysseus und Kalypso und jeder Gegenstand im Raum verweist auf diese mythologische Auseinandersetzung. Für mich sind Orte und Gegenstände Träger von Geschichten und Szenen aus dem Leben, die ihnen zu eigen sind. Ich wollte unbedingt eine Geschichte an den Anfang meines kreativen Prozesses setzen und da das Mittelmeer die Wiege der griechischen Mythologie ist, habe ich mich dieser Episode aus der Odyssee bedient. Ich habe mir dafür eines der Zimmer vorgestellt, in dem Kalypso Odysseus hätte festhalten können. Ich wollte, dass der Raum und die Möbel und Gegenstände durch ihr Aussehen Ausdruck dessen werden, was sich in dieser Szene abgespielt hat. Jeder Gegenstand im Raum ist Zeuge des Dramas und wie aus einem Märchen, einem Mythos, entsprungen, mit einem seltsamen, mineralischen, ja sogar organischen Aussehen.
Was sind Deine Inspirationsquellen?
Meine Projekte haben oftmals einen zeitlose Charakter. Ich lasse mich von antiken oder mittelalterlichen Spuren inspirieren, die ich gerne mit zeitgenössischen Elementen kombiniere. Das kann mit einem großen, aus dem Felsen geschnittenen Tisch beginnen, mit Stühlen, die einem Thron gleichen, oder mit Säulengängen und Drapierungen, die auf die Zelte der römischen Krieger verweisen. Ich arbeite gerne mit einfachen Linien und bin empfänglich für die starke Präsenz des Materials. Auch meine Reisen sind für mich eine wichtige Inspirationsquelle. Besonders inspiriert mich außerdem die Arbeit des Bühnenbildners Richard Peduzzi wegen seines zeitlosen Universums, der unumgängliche Carlo Scarpa, der Architekt des Details, und nicht zu vergessen Vincenzo De Cotiis, das Genie der Materialität.
Welcher Stellenwert kommt dem Theater in Deiner Arbeit zu?
Ich hege seit meiner Kindheit eine Leidenschaft für Bewegung und Bilder. Die Verknüpfung verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen galt bei uns Zuhause als Leitmotiv. Ich verspürte schon immer eine große Begeisterung und Vorliebe für das Theater. Für mich ist es wesentlich, durch meine Projekte eine Geschichte zu erzählen. Ich entwerfe gerne Konzepte, die zeitlos sind, gleich die eines Märchens - vielleicht ist es das, was ihnen eine gewisse Theatralik verleiht.
Folgst Du bei Deiner Arbeit einem gewissen Ritual?
Meine morgendliche Routine beginnt immer mit einer guten Tasse Tee und einer inspirierenden Playlist. Was meinen kreativen Prozess betrifft, so beginne ich den Tag grundsätzlich mit der Suche nach Ideen, die ich mit Kohle skizziere. Dabei gehe ich oft nach der gleichen Methode vor. Meistens ergibt sich die kreative Idee dabei sehr schnell, sozusagen aus einem Impuls heraus.
Welche Materialien magst Du besonders gerne? Wie wählst Du sie aus?
Ganz besonders liebe ich rohe Materialien und so fällt es mir oft schwer, eine Auswahl zu treffen! Eine besondere Vorliebe habe ich für die Kombination von rohen Materialien und etwas luxuriöseren Elementen. Stein und Metall beispielsweise sind Elemente, die immer wieder in meinen Kreationen zu finden sind. Allerdings bietet jedes neue Projekt auch die Gelegenheit, neue Materialien zu entdecken und neue handwerkliche Fertigkeiten zu erlernen. Mit dem Werk „La Récolte“, das ich für den Sessùn Craft Prize angefertigt habe, habe ich mich zum Beispiel zum ersten Mal an die Verarbeitung von Stroh gewagt. Als junge Innenarchitektin und Designerin ist es mir sehr wichtig, mich mit dem Thema Nachhaltigkeit und den Auswirkungen von Architekturprojekten auf unsere Umwelt zu befassen. Ich für meinen Teil lege großen Wert auf die Verarbeitung lokaler Materialien sowie auf die Zusammenarbeit mit Handwerkern, die in der Region leben, in der das Projekt umgesetzt wird.
Für die erste Ausgabe des Sessùn Craft Prize hast Du einen Kokon aus natürlichen Materialien entworfen. Würdest Du uns etwas mehr über dieses Projekt erzählen?
„La Récolte“ ist eine Anfertigung, die von den Nickerchen im Schatten eines Strohballens nach getaner Feldarbeit in der sengenden Sonne inspiriert ist und an die Gemälde von Van Gogh und Millet erinnert. Mit ihrer geschwungenen Form erinnert sie gleichzeitig an ein Nest, einen Kokon und einen Zufluchtsort, der von der Außenwelt abschirmt und schützt. In Anlehnung an die Schilfhalme der Camargue interpretiert diese vernakuläre Mikroarchitektur die Verwendung von Stroh ganz neu. Diese runde und leichte Struktur schafft einen Rückzugsort, der neue Energie spendet. Sie besteht aus einzelnen pflanzlichen „Röckchen", die in mehreren Lagen angeordnet und zusammengefügt sind. Das Ganze wird von einer Holzstruktur gehalten. Im Zentrum des Konzepts von „La Récolte“ stehen die Weitergabe und das Experimentieren. Und so entspricht diese Idee auch dem Ansatz von Sessùn, der auf Savoir-faire setzt und eng mit dem Handwerk verbunden ist.
Wie verlief die Herstellung des Kokons?
Das Projekt verlief völlig reibungslos. Wir haben sehr schnell die passenden Handwerker gefunden. Ekolinea mit Sitz in der Nähe von Arles ist ein Unternehmen, das Schilfbestände bewirtschaftet. Bereits seit Jahrzehnten beweist die Inhaberfamilie Perret Kreativität und Innovationsgeist bei der Verwendung und Verarbeitung von Schilf aus der Camargue. Da die Arbeit eine gewisse Ähnlichkeit mit den Dächern der Camargue-Häuser aufweist, war es mehr als naheliegend, mit einem Handwerksbetrieb zusammenzuarbeiten, der über Fachwissen in diesem Bereich verfügt. Das Projekt sollte eine starke lokale Dimension aufweisen, und diese Verpflichtung wurde somit eingehalten. Das Projekt beinhaltete auch einen regelmäßigen Austausch mit dem gesamten Sessùn-Team und Nathalie Dewez von Massilia, die alle unglaublich freundlich waren und stets wertvolle Unterstützung boten. Es ist eine wunderbare Gelegenheit, die Sessùn den Künstlern bietet und mit ihnen teilt. Die freie Arbeit ist doch das, wonach jeder Künstler am meisten strebt.
Woran erinnert Dich Sessùn?
In meinen Augen steht Sessùn für ein gemeinsames Eintauchen in unsere Kindheitserinnerungen und verkörpert damit wahre Authentizität und einen Hauch von Poesie. Sie geht über ihre Identität als Prêt-à-porter-Marke hinaus und wird zu einem globalen Projekt, das durch die Kooperation mit anderen Kunstformen noch bereichert wird. Sie kultiviert es durch das Wort, das sie den teilnehmenden Künstlern und Handwerkern überlässt. In drei Worten: Sessùn ist Sonne, Frische und Teilen.
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