Begegnungen

Guylène Galantine

Donnerstag 19 Oktober 2023

CRÉDIT PHOTOS : Tanguy Sergheraert

Guylène Galantine empfand schon immer Begeisterung für Objekte, die ihrer Meinung nach Ausdruck von Träumen und Schönheit sind und in einer zunehmend entmaterialisierten Welt eine umso größere Berechtigung haben. Ihre „Variations sur patte“ zeigen sich in einer Serie von Skulpturen, die sich an der Grenze zwischen Kunst und Gebrauchsgegenstand bewegen. Inspiriert von den Kurven und Linien des menschlichen Körpers sowie der Pflanzen- und Tierwelt, experimentiert die Künstlerin in ihrem Atelier in Roubaix mit Form und Material und lässt sich dabei von der Vorstellung leiten, dass gestalterische Gesten notwendig sind, um die Welt im Gleichgewicht zu halten.

Wann und wie hast Du die Keramik für Dich entdeckt?

Ich hatte schon immer einen besonderen Bezug zu Objekten, sowohl zu Designobjekten als auch zu Skulpturen. Diese haben oft unbewusst Einfluss auf meinen beruflichen Werdegang genommen, mich beim Kauf von Kunst beeinflusst oder später in den Bereichen Innenarchitektur und Dekoration. Dadurch habe ich mich Objekten so weit angenähert, dass ich irgendwann beschloss, selbst welche anzufertigen. Die Keramik, die wohl ursprünglichste künstlerische Disziplin zur Herstellung von Gegenständen, drängte sich mir dabei förmlich auf. So erlernte ich das Arbeiten mit Ton. Und das Abenteuer nahm seinen Lauf.

Auf welche Technik greifst Du am häufigsten zurück?

Ich arbeite mit der Wulsttechnik, der ältesten Technik, die mir eine sehr große Freiheit hinsichtlich der Formgebung ermöglicht. Die Beziehung zwischen den Händen und dem Material ist hier am direktesten und am intuitivsten. Ein Objekt nimmt einzig durch die Arbeit der Finger Gestalt an, ohne Zuhilfenahme von Werkzeugen oder Maschinen.

Wie hast Du dieses Handwerk erlernt?

Ich habe eine dreijährige Ausbildung bei der plastischen Keramikerin Sandrine Hurtrer durchlaufen. In dieser Zeit habe ich die verschiedenen Techniken des Stanzens, Überformens, Gießens usw. kennengelernt.

Was repräsentieren Deine „Variations sur pattes“?

Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei meinen „Variations sur pattes" um eine Reihe von Objekten/Skulpturen, die alle ein anthropomorphes Element gemeinsam haben, nämlich Beinchen; es handelt sich also buchstäblich um stehende Objekte. Ich wollte eine Reihe von Objekten schaffen, die sowohl einzeln als auch zusammen zur Geltung kommen. Ähnlich wie die Mitglieder einer Familie - jede Skulptur zeichnet sich durch ihre Besonderheiten in Bezug auf Textur, Farbe und Form aus, gleichzeitig aber gehören alle zusammen und bilden ein Ganzes. Sie stehen wie wir Menschen aufrecht da... Das sage ich rückblickend, weil diese Idee eigentlich erst durch die künstlerische Umsetzung entstanden ist, wie das bei meiner Arbeit oft der Fall ist.

Welches Objekt repräsentiert Deine Arbeit am besten?

Wahrscheinlich „Variations sur pattes". Diese Serie befindet sich hinsichtlich meiner ästhetischen Forschung an einer Schwelle zu neuen Erkundungen. Ich stelle sie in unterschiedlichen Größen und in hautähnlichen Farben her. Es macht mir Spaß, sie miteinander in Dialog treten zu lassen und dabei mit den oft unregelmäßigen Kurven und Linien menschlicher, weiblicher und runder, tierischer und pflanzlicher Formen zu spielen. Ich würde also sagen, dass es eher eine wichtige als eine repräsentative Serie ist.

Was sind Deine Inspirationsquellen?

Meine Inspirationen sind vielfältiger Art, die Kindheit ist prägend für die Entwicklung von Geschmack und Sensibilität. Meine Verwurzelung in der kreolischen Kultur beeinflusst meine Arbeit sehr stark; die ockerfarbenen Böden von Guadeloupe, die üppige Natur und die Felsgravuren der Arawaks. Eigentlich hierarchisiere ich meine Einflüsse und Inspirationen nicht, ich liebe Volkskunst und Art Brut genauso wie Bauhaus oder Oscar Niemeyer. Ich bewundere Eileen Gray für ihren Dialog zwischen bildender Kunst und Architektur. Enzo Mari für seine Vorreiterrolle für den DIY-Trend und die politische Komponente. Die Malerei von Giorgio Morandi, der durch die Wiederholung seiner Stillleben eine tiefe Melancholie vermittelt. Salvatore Fiume für den Beitrag afrikanischer Kunst zur modernen Bildhauerei... Inspirationen können mir aber auch einfach beim Stöbern auf einem Flohmarkt kommen. Inspirationen finden sich im Grunde überall.

Welcher Stellenwert kommt  der kreativen Forschung bei Deiner Tätigkeit zu?

Intuition spielt in meiner Arbeit eine wichtige Rolle und es ist nicht immer einfach, die Umsetzung eines Stücks von den Überlegungen, die diesem vorausgegangen sind, zu trennen. Manchmal fertige ich Zeichnungen an und in anderen Momenten fange ich einfach an, den Ton zu bearbeiten, ohne eine Vorstellung von dem Objekt zu haben, das ich anfertigen will. Das ist nicht immer so einfach, man muss sich von der Materie leiten lassen, sich von der Skizze lösen können und das Zufällige, das Unvollkommene, das „Sabi", das Loslassen mögen...

Deine Kreationen bewegen sich fast immer an der Grenze zwischen Skulptur und Gebrauchsgegenstand. Wie stehst Du zur Rückbesinnung auf das Kunsthandwerk?

Wir leben in einer Welt, in der das Nachdenken über unsere Art zu konsumieren die Gesellschaft bestimmt. Eigentlich gibt es keine materielle Notwendigkeit oder keinen Bedarf mehr, neue Gegenstände herzustellen. Und doch hat der Mensch stets das Bedürfnis etwas Neues anzufertigen. Die Rückbesinnung auf das Handwerk zeugt von der Beziehung zur Tätigkeit und zur Weitergabe, sie zeigt uns auch, wie wichtig gestalterische Gesten für das Gleichgewicht der Welt sind. Das Objekt tut uns durch seinen einzigartigen Charakter und seine Eigenheit gut, es bringt etwas von einem Traum und einen Hauch von Schönheit in eine Welt, die sich zunehmend entmaterialisiert. Die Idee der Skulptur, die zum Gebrauchsgegenstand wird, steht im Mittelpunkt meiner Überlegungen, wenn ich ein Stück entwerfe. Sie kann hingestellt werden und sich selbst genügen oder um weitere Elemente (Äste, Früchte...) ergänzt werden. So kann sich jeder das Objekt auf seine Art zu eigen machen.

Was ist zurzeit Dein Kunst-Highlight?

Die Ausstellung „Sculpter le monde“ des Bildhauers und Designers Isamu Noguchi im LAM (Lille Métropole Musée d'art moderne, d'art contemporain et d'art brut, in Villeneuve-d'Ascq). Ein Künstler, dessen Arbeit sich zwischen klassischer Handwerkskunst und radikaler Moderne bewegt und die ich sehr bewundere, die mir entspricht.

Woran erinnert Dich Sessùn?

Das Universum von Sessùn spricht mich an, ihre Farbpalette, die erdigen Farben und die Schönheit der Kleidung, die sich durch ihre Funktionalität und ihren Komfort auszeichnet. Die moderne Eleganz und die zeitlosen Schnitte. Sessùn legt auch Wert darauf, Künstler und Kunsthandwerker zu fördern, deren Ansatz authentisch und ehrlich ist.

Gibt es zukünftige Projekte, die Du uns gerne ankündigen möchtest?

Ich entwickle unter Einbeziehung meiner Objekte Set-Designs für verschiedene Häuser. Außerdem erstelle ich mit Textilien verkleidete Leuchten für ein Projekt in Portugal her, das bald veröffentlicht wird.

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