BILDNACHWEIS : FLORIAN TOUZET
Ihre Küche verweist auf ihre Kindheitserinnerungen, ihr multikulturelles Erbe und die große Bedeutung von Gastfreundschaft, erzählt aber auch von etwas Neuem, dem Aufbruch zum Horizont der unendlichen Möglichkeiten. Zuri Camille de Souza wuchs in Indien auf. Sie studierte in den USA Humanökologie und leitete anschließend ein Kochprojekt in Palästina sowie weitere kreative Projekte rund um das Thema Flüchtlinge und Migration in Griechenland. Zuris Kochkunst hat immer einen politischen Bezug und bringt auch ihre Sicht der weltweit bestehenden Ungleichheiten und Konflikte zum Ausdruck. Für ihre bis zum 1. April angesetzte Küchenresidenz bei Sessùn Alma hat Zuri Camille de Souza eine humane Speisekarte zusammengestellt, die Produkte und Produzenten feiert und mit Gerichten aufwartet, die das Herz erwärmen und den Körper und die Seele verwöhnen sollen.
Deine Wege führten Dich von Goa nach Marseille - Erzähl uns, was Dich dazu bewegt hat, die Welt zu bereisen?
Die Vorstellung zu reisen, liebe ich seit meiner Kindheit. Mein Vater wurde in Kenia geboren und kehrte mit 17 Jahren nach Indien zurück. Meine Mutter hat in Sambia, Hongkong, auf Mauritius, in Trinidad und dann in Indien gelebt. Seit ich denken kann, lauschte ich ihren Geschichten, ihren Abenteuern, den verschiedenen Sprachen... Auch die Gerichte der verschiedenen Länder haben mich zum Träumen gebracht!
Welche Ausbildung hast Du?
Ich verließ Indien mit 18 Jahren, da ich ein Stipendium für ein Bachelorstudium der Humanökologie in den USA erhalten hatte. So verbrachte ich vier Jahre auf einer verlorenen Insel vor der Küste von Maine und arbeitete an Forschungsprojekten, die sich mit nachhaltiger Ernährung, Architektur und Ökologie in Palästina, Italien und Mumbai befassten. Anschließend kehrte ich nach Mumbai zurück, wo ich als Lehrerin an einer Designschule unterrichtete und gleichzeitig in einem Atelier für Schneiderei, Design und Kunsthandwerk tätig war. Ich erkenne darin heute viele Gemeinsamkeiten mit Sessùn Alma. Wir haben dort unter anderem auch Gastaufenthalte für Chefköche angeboten. Damals wurde mir klar, dass eine interdisziplinäre Betrachtung der Kochkunst durchaus möglich ist.
Zwei Jahre später kamen mein Freund und ich auf die Idee, Segeln zu lernen. Und so fingen wir an, auf einem kleinen Segelboot vor der Küste Mumbais umherzusegeln.
Dann erhielt ich eine Zusage für eine Küchenresidenz in Jericho, in Palästina. Ich verließ Mumbai für eineinhalb Monate und initiierte ein Projekt rund um die palästinensische Küche und ihre Entwicklung unter der Besatzung. Dort erkannte ich, welche Kraft die Kochkunst besitzt, um Menschen zusammenzubringen und fröhliche Momente entstehen zu lassen, selbst in einer unter schwerer und gewalttätiger Besatzung stehenden Region. Mein Freund ging anschließend zum Arbeiten in ein auf der Insel Chios, in der Nähe von Lesbos, gelegenes Flüchtlingslager. Aufgrund unserer jeweiligen Erfahrungen wollten wir etwas ins Leben rufen, das unser Können und Wissen mit unseren politischen Ansichten verbindet. Und so kamen wir auf die Idee, einen kleinen, mobilen Verlag mit einer Ausrichtung auf die Themen Natur, Landschaften und Migration zu gründen. Wir segelten von der französischen Stadt Frontignan nach Lesbos und legten in einem Tageszentrum für die Bewohner des größten griechischen Flüchtlingscamps, Moria Camp, einen Gemeinschaftsgarten an.
Dank unserer Netzwerke konnten wir auf unserem Segelboot viele interessante Menschen empfangen. Wir veranstalteten gemeinsam Radio- und Filmworkshops, Poesie- und Musikabende, arbeiteten im Garten und fotografierten. Aus jedem Projekt entstand eine Veröffentlichung oder eine Podcast-Reihe. Nach einem Jahr sind wir dann zurück nach Frankreich, nach Marseille.
Nach Mumbai und Lesbos, erschien es uns unmöglich, weit entfernt vom Meer zu leben. Außerdem gefiel uns die Vielfalt in Marseille. Ich sprach damals noch nicht Französisch, aber ich wusste, dass ich etwas Kreatives machen wollte. So habe ich meinen Lebenslauf überall abgegeben - in Blumenläden, Restaurants, Geschäften usw. Auf diese Weise lernte ich auch Marseille kennen. Ich fing dann als Tellerwäscherin im Nour d'Egypte an. Danach war ich Köchin im Balady und dann im Yima, wo ich bis zur Covid-Pandemie und der dadurch bedingten Restaurantschließung blieb.
2020 hast Du SANNA gegründet. Würdest Du uns etwas über dieses Projekt erzählen?
Während des Lockdowns habe ich viel Zeit damit verbracht, nachzudenken. Warum koche ich? Welche Botschaft möchte ich vermitteln? Was würde ich gerne mit anderen teilen? Ich wurde mir der Tatsache bewusst, dass das Bild Indiens in Frankreich stark vereinfacht und sehr vom Orientalismus geprägt ist und die landestypische Küche auf Naans, Palak Paneer und gelbes Currypulver reduziert wird. Deshalb wollte ich meine Erfahrungen, die Rezepte von zu Hause, mein Wissen über die Vielfalt der Sprachen, Religionen und Kulturen usw. mit anderen teilen. Ich wollte die Schönheit jeder Region aufzeigen, aber auch von den Spannungen und der Komplexität eines Landes berichten, in dem die Kolonialgeschichte sowie die dadurch entstandenen Traumata noch heute sichtbar und Ungleichheiten tief im Alltagsleben verankert sind. Sanna ergab sich aus einem kritischen Blick auf meine Position als Köchin in einem westlichen Land und ging zunächst mit einer täglich auf Instagram geposteten Speisekarte an den Start. Ich kochte und lieferte selbst mit dem Fahrrad aus. Nach und nach erhielt ich Bestellungen von überallher, Anfragen für Dienstleistungen, Hochzeiten, Pop-Up-Restaurants etc.
Erzähl uns doch etwas von Deiner Erfahrung in der römischen Villa Medici?
Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll! Mir fällt das goldene Licht ein, das mich jeden Morgen begrüßte, wenn ich durch den Garten in die Küche ging. Außerdem erinnere ich mich an die schönen Erdbeeren im Sommer und den Spargel im Frühling, den mir Hasmik, eine ganz besondere Gemüsebäuerin, jede Woche mit einem strahlenden Lächeln lieferte, an den Cappuccino, der von Selene und Sabrina immer mit so viel Liebe zubereitet wurde, an den Duft von Orangenblüten und Rosen, den ich ihn mir aufnahm, während ich im Garten Kräuter und Blumen pflückte. Es war eine sehr intensive Zeit, aber ich zog nach einem Jahr weiter, inspiriert und glücklich, dass ich an diesem einzigartigen Ort zu etwas Magischem und Notwendigem beitragen durfte. Ich freue mich, dass die Welt des Kochens Teil der Villa Medici ist.
Welche kulinarischen Verbindungen schaffst Du zwischen Deinen indischen Wurzeln und Marseille?
Ich erkenne zwischen Mumbai und Marseille viele Gemeinsamkeiten, beides sind maritime Städte, die mich inspirieren und pulsierend und dynamisch sind. Ich versuche, meiner Küche eine Ausprägung zu verleihen, die sich mit den Themen Reisen, Austausch der Kulturen und historisch unterdrückten Menschen befasst. Marseille ist keine sterile Stadt, die Vielfalt tritt überall zutage, das finde ich schön und kraftvoll. Und genau das will ich auch durch meine Küche zum Ausdruck bringen, ich will nicht verbergen, wer ich bin oder woher ich komme.
Wie würdest Du Deine Küche beschreiben?
Sie ist eine Annäherung an die Erinnerungen und die Sehnsüchte meiner Kindheit, an den Geschmack der verschiedenen Gerichte, die ich gegessen habe und die damit verbundenen Emotionen. Sie steht für Sensibilität und die große Bedeutung der Gastfreundschaft ; sie ist eine Hommage an mein kulinarisches Erbe. Gleichzeitig bedeutet sie aber auch, Neues zuzulassen, zu lernen und Unbekanntes zu entdecken... Und letztendlich zelebriert sie die Schönheit und Einfachheit, die ich im Vorgang des Essens sehe.
Wie hast Du Deine Speisekarte für Deinen Gastaufenthalt bei Sessùn Alma zusammengestellt?
Ich habe mir eine Speisekarte ausgedacht, die die Produkte und Produzenten, mit denen ich zusammenarbeite, hervorhebt, damit ich etwas über das Menschliche, das sich hinter jedem Gericht verbirgt, erzählen kann. Was die Aromen und Gerichte angeht, so sind diese winterlich angehaucht und vor allem handelt es sich um eine Speisekarte, die das Herz erwärmen und dem Körper und der Seele etwas Gutes tun soll. Ich denke mir Gerichte aus, auf die ich selbst Lust habe und die meinen Körper gut tun.
Was hältst Du von dem Trend der reisenden Chefköche?
Ich sehe diese Bewegung als etwas sehr Positives für alle Chefköche. Es ermöglicht uns, uns Zeit zu nehmen, um herauszufinden, was wir wirklich gerne kochen und anbieten wollen. Vielleicht verleiht diese Bewegung, dieser Austausch diesem Beruf auch etwas ganz Neues? Ich bin für Interdisziplinarität, für neue Perspektiven!
Was verbindest Du mit Sessùn Alma?
Ich finde es schön und notwendig, dem Handwerk, der Ökologie und dem Erbe Bedeutung zu schenken. Und genau das finde ich bei Sessùn Alma. Meine Freundin Emmanuelle Oddo hatte mir schon von dem Projekt erzählt, als es sich noch im Aufbau befand. Mich hat daran besonders die Liebe zum Detail und seine überall spürbare menschliche Note angesprochen. Das zeitgenössische Kunsthandwerk hat in Indien (sowie eigentlich überall) stark unter der Industrialisierung und der damit einhergehenden Massenproduktion gelitten. Ich konnte dies während meiner Kindheit in Indien in den 1990-er Jahren selbst miterleben. Ich sah, wie sehr sich die Fast Fashion der Muster und der Ästhetik des Kunsthandwerks bediente, ohne jedoch die dazugehörigen Verfahren, die Sensibilität der Kunsthandwerker und die historischen Hintergründe zu kennen. Wie kann man ein Gleichgewicht zwischen Ästhetik und politischem Kontext schaffen? Wie kann sich ein Handwerk weiterentwickeln, ohne dabei seine Geschichte aufzugeben? Wie kann man schöne Produkte für alle zugänglich machen und gleichzeitig die Handwerker gerecht entlohnen? All das sind Fragen, die ich mir täglich beim Kochen stelle, die ich aber auch für andere kreative Berufe als relevant einstufe. Und genau das verbinde ich mit Sessùn Alma, einen Raum, der einen kritischen Blick auf das Handwerk anregen kann.
Was sind Deine Pläne für die kommenden Jahre?
Im Moment habe ich mehrere Küchenresidenzen in Marseille geplant, alle an Orten, die ich mag. Zunächst bei Sessùn Alma, im April dann bei Camas Sutra in Camas, im Juni in Korsika in einer Kastanienselve und im Herbst in Brüssel. Den Sommer über werde ich im Livingston arbeiten, um Neues zu lernen, mich zu verbessern und meine Küche weiterzuentwickeln.
Nebenbei vertiefe ich meine Beziehung zum Meer, indem ich meine Ausbildung zur Apnoetaucherin fortführe. Mein Lieblingsort ist dort, umgeben von Wasser und den sanften Geräuschen der Unterwasserwelt. Außerdem arbeite ich an einem Kochbuch. In den nächsten Jahren möchte ich mehr Zeit darauf verwenden, die feine, gesunde und schmackhafte Küche auch Menschen zugänglich zu machen, die nicht unbedingt Zugang zu dieser Welt haben. Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen dem Erbe der ganzheitlichen Küche und den Gemeinschaften, die davon profitieren, und ich denke, es ist an der Zeit, dieses Ungleichgewicht zu verringern!
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